Ilse Velbert fühlte sich rundum wohl. Außen und innen. Vor einer Viertelstunde war Juanita gegangen. Ihr Vater war Gastarbeiter beim Städtischen Fuhrpark. Genauer: bei der Müllabfuhr. Und da Ilse gelesen hatte, daß man Weihnachten lieb zueinander sein soll, hatte sie zur Bescherung am Heiligen Abend Juanita eingeladen.
Ilse Velbert hatte mit Geschenken nicht gespart. Vielmehr ihre Eltern nicht, denn die mußten die Geschenke schließlich bezahlen. Juanita hatte bekommen: ein Paar Pelzhandschuhe, einen Füllfederhalter mit eingraviertem Namen, Rollschuhe und eine Tüte Spekulatius, Schokoladebonbons und Pfeffernüsse. Und Juanita hatte sich über die Geschenke gefreut. Man konnte es ihrem Gesicht ansehen. Und beim Nachhause gehen hat Juanita die Pelzhandschuhe gleich angezogen.
Ilse hatte der Klassenkameradin noch lange nachgewinkt. Und dann begann sie zu frieren und hatte die Haustür schnell zugemacht und war zu ihrem eigenen Gabentisch zurückgekehrt: ein Paar Stiefel aus Seehundfell, ein Mantel mit Pelzbesatz, rubinrote Ohrringe, ein Buch über die Tierwelt in der Serengeti und ein Heimkino mit zehn Trickfilmen.
Ilse sah zufrieden aus. Sie sah so zufrieden aus, daß ihr Bruder Piet ihr diese Zufriedenheit vermiesen wollte.
„Du siehst aus, als hättest du ein gewaltiges Werk getan!“ sagte Piet.
„Hab’ ich das nicht?“ fragte Ilse. „Schließlich habe ich als einzige in der Klasse Juanita eingeladen und ihr…“ Piet winkt ab. „Jajaja! Du hast Juanita eingeladen. Zu Weihnachten! Aber – an den übrigen dreihundertvierundsechzig Tagen im Jahr hab’ ich Juanita noch nie bei uns gesehen!“ Ilse wurde ärgerlich. Sie zögerte nicht lange, es ihrem Bruder heimzuzahlen:
„Ausgerechnet du mußt mir das vorwerfen! Wen hast du denn zu Weihnachten eingeladen, du edelmütiger Knilch? Überhaupt keinen!“
„Stimmt“, sagt Piet, „Weil ich mich schäme, ausgerechnet in der Weihnachtszeit jemand in unsere Bude zu lotsen und für eine Stunde das gute Herz zu spielen und mich dann nicht mehr um den anderen zu kümmern.“
„Also tust du überhaupt nichts für Gastarbeiterkinder? Ihr habt doch auch einen in der Klasse!“
„Drei haben wir in der Klasse“, stellte Piet mit Gelassenheit richtig. „Rodolfo, Beatrice und Titomanlio -“
„Sogar drei! Wenn du wenigstens für einen davon einen Finger krumm machen würdest…“
„Finger krumm machen ist gut!“ sagte Piet und kicherte aus dem Rachen heraus wie Ernie aus der Sesamstraße.
„Das mach’ ich nämlich…“
„Nööööö!“ sagte Ilse erstaunt.
„Jööööö!“ sagte Piet. „Ich übe mit Rodolfo deutsch schreiben und sprechen, zweimal in der Woche.“
„Ich hab’ ihn aber noch nie hier gesehen…“
„Rodolfo war schon ein paarmal hier. Du warst zufällig nicht da. Aber meistens geh’ ich zu ihm. Hier wird er nämlich immerzu gefragt: „Ach, wieviel Grad im Schatten ist es denn jetzt bei euch in Sizilien? – Kannst du uns nicht verraten, wie man eine Pizza Bolognese macht?“ Und solcher Kram.“
„Sag mal: hilft es denn überhaupt? Ich meine, so’n bißchen Nachhilfestunde? – Spricht Rodolfo denn besser, nachdem du…“
„Besser vielleicht nicht“, sagte Piet. „Aber leichter.“
„Leichter?“
„Er hat nicht mehr so eine große Scheu wie früher.“
„Wann gehst du denn nächstes Mal zu Rodolfo?“ fragte Ilse.
„Jetzt“, sagte Piet, „Rodolfos Familie hat mich eingeladen. Rodolfos Vater hat gesagt: „Wer das ganze Jahr mit uns zusammen ist, der darf auch an diesem besonderen Abend nicht an unserem Tisch fehlen!“
„Kann ich mitkommen?“ fragte Ilse.
„Zu Rodolfo?“ fragte Piet.
„Ja“, sagte Ilse.
„Wie ich Rodolfos Familie kenne, wird niemand etwas dagegen haben“, sagte Piet. „Aber ich mache dir einen besseren Vorschlag.“
„Welchen?“ fragte Ilse.
„Wie wär’s mit einem Besuch bei Juanita?“
Im Jahr 1979 veröffentlichte der Georg Bitter Verlag Josef Redings Erzählsammlung Kein Platz in kostbaren Krippen. Weihnachtsgeschichten für unsere Zeit, in dem auch die Weihnachtserzählung „Als Juanita fort war“ erschien. Weihnachtsgeschichten wie diese machen einen großen Teil von Redings Werk aus und zeigen beispielhaft, wie der Wahldortmunder diese nutzte, um für Toleranz und Nächstenliebe zu plädieren – auch „an den übrigen dreihundertvierundsechzig Tagen im Jahr“ abseits von Heiligabend.