Soziale Klasse im Werk Josef Redings
von Christian Baron
Vorarbeiten zum Liedtext Arme haben keine Lobby aus Redings Nachlass
Im Krieg verlieren auch die Sieger. Weil die Logik von Triumph und Niederlage bestenfalls eine Sache für den Sportplatz ist, kann der Frieden nur jenseits des Schlachtfeldes gewonnen werden. Das ist eine Erkenntnis, mit der in Deutschland die Generation der Kriegskinder mehr anfangen kann als die der Nachgeborenen, von denen so manchem in Zeiten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im Jahr 2022 Begriffe wie „Lumpenpazifist“ oder „Kapitulationsintellektuelle“ als Schimpfworte gegen Friedensbewegte passend erscheinen. So, als hätte es die Barbarei zweier von deutschem Boden vom Zaun gebrochener Weltkriege nie gegeben. Josef Reding wären solche Schmähbegriffe sicher nicht über die Lippen gekommen. 1929 geboren in Castrop-Rauxel im Ruhrgebiet, war er erst vier Jahre jung, als die Nazis an die Macht kamen. Als die Alliierten die Menschheit 1945 vom deutschen Faschismus befreiten, war er sechzehn. Zu jung, um eine Mitschuld tragen zu können am schlimmsten Verbrecher-Regime, das die Welt je erdulden musste.
Doch war er alt genug, um Traumata davonzutragen.
Wie sich eine Kriegskindheit auf das weitere Leben auswirkt, das hat der Schriftsteller in einer seiner bekanntesten Kurzgeschichten beschrieben: Schonzeit für Pappkameraden. Darin will es dem gelernten Kunstschützen Dworski einfach nicht gelingen, bei einer Wehrübung auch nur einen einzigen seiner zahllosen Schüsse auf die Pappmascheefiguren ins Ziel zu bringen. Seine Vorgesetzten halten das für einen subversiven Scherz, doch Dworski erklärt es ihnen: „Ich hab von Kindheit an lernen müssen, danebenzuschießen. Ich muss danebenschießen. Das ist mein Beruf. Dafür kriege ich mein Geld. Dafür gibt’s den Beifall der Zuschauer.“ Durch diese Umkehrung leuchtet die eigentliche Absurdität umso mehr ein: So, wie Dworski das vorgegebene Ziel immer verfehlen muss, so muss ein Soldat im Drill sein Ziel treffen, er wird also zum entmenschlichten Tötungsinstrument – einfach, weil es sein Job ist, Lebende zu erschießen.
Buchcover Schonzeit für Pappkameraden
Am Ende des Zweiten Weltkrieges, als die deutsche Niederlage längst besiegelt war und das Regime dennoch Kinder zu Kanonenfutter machte, wurde auch Josef Reding zum Fronteinsatz abkommandiert. Im großen Stahlhelm musste er sich mit Panzerfaust und Karabiner ins Erdloch hineinducken, wovon seine Geschichte Junge Bäume bluten weiß erzählt. Ein kleiner Junge wartet darin versteckt auf den feindlichen Panzer, den es zu knacken gilt. Es rollt aber kein Panzer heran. Stattdessen kommen US-Soldaten, die das ob der Überraschung zögernde Kind mit ihren Maschinenpistolen abknallen. Die letzten Gedanken im viel zu früh endenden Leben des Jungen hat Reding schmerzlich schön poetisiert: „Und als er den Himmel zugedreht bekam, einfach zugedreht, da wischte sein violetter Schwamm erst den Kreidepanzer und dann den Himmel aus.“
Der Krieg ist immer grausam. Besonders hart aber trifft er die Armen. Krieg ist also eine soziale Frage. Weil es die Söhne der Mittellosen sind, die in jene Kriege ziehen müssen, von denen die Söhne jener Machthaber verschont bleiben, die diese Kriege befehlen und befeuern. Darum zieht sich der Krieg wie ein roter Faden durch das Werk von Josef Reding, ebenso wie die Parteinahme für die Gestrandeten der Gesellschaft. Sein Antrieb zum Schreiben verdankte sich seiner einmal selbst formulierten „Einsicht, dass der Sprachlose des Sprechers bedarf“. Sein Lebtag blieb dieser Autor der knappen Form treu. Einen Roman für Erwachsene hat er nie veröffentlicht, dafür aber zahllose Gedichte, Kinderbücher, Liedtexte und vor allem „Kurzgeschichten, die im Volumen die Länge einer Straßenbahnfahrt zum Arbeitsplatz nicht überschritten“. Das war seine Form, und er beherrschte sie meisterhaft.
Wer kümmert sich um die Zukurzgekommenen?
Tatsächlich ist genau dies das Bauprinzip fast aller Geschichten von Reding. Es ist simpel, aber nicht trivial. Redings Schreibverfahren ist das Einfache, das schwer zu machen ist. In den fünfziger Jahren konnte er dank eines Fulbright-Stipendiums in den USA studieren. Dort politisierte ihn die Schwarze Bürgerrechtsbewegung, sodass die Kritik am Rassismus ihm auch nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik ein literarisches Anliegen blieb. In Amerika las er sich durch die Erste Liga der kurzen Form: Erskine Caldwell, Flannery O’Connor, F. Scott Fitzgerald und natürlich Ernest Hemingway. Letzterem steht Reding stilistisch am nächsten. In ihrer schmucklosen Darstellung glänzen seine Geschichten, die in der Beschreibung immer auf eine fassbare Dringlichkeit ausgerichtet sind. Ist Reding nun also der „Hemingway des Ruhrgebiets“, wie ihn Hilmar Klute in seinem Nachruf nannte? Eher nicht. So ähnlich sich beide sprachlich auch sein mögen, so viel trennt sie in Fragen der Erzählhaltung und des stofflichen Zugriffs. In Redings Geschichte Allein in Babylon führt der Buchhalter Marchner ein Kneipengespräch, in dem er gefragt wird: „Mögen Sie Hemingway nicht?“ Marchners Antwort ließe sich auch Reding selbst zuschreiben: „Seine Helden sitzen zu weit weg von mir. Alles hartfäustige Männer. Mannmänner. Großwildjäger, Offiziere, Dschungelkenner und Whiskeyschlucker.“
Redings Interesse galt den Menschen im Schatten, den Niedergedrückten und Vergessenen, die nicht viel Aufhebens um sich machen und denen das Leben mehr als eine harte Faust ins Gesicht gedonnert hat – womöglich von jenen oftmals hochwohlgeborenen Überlegenheitskerlen, die Hemingway in seinen Stories so gern und brillant beschrieb. Seinem Band Die Stunde dazwischen hat Josef Reding rhetorische Fragen vorangestellt, die sich wie eine Aufstellung seines eigenen poetischen Programms lesen: „Wer aber kümmert sich um die Zukurzgekommenen? Wer spricht für den, der für die Öffentlichkeit am Rande, als Hinterherhinkender fungiert? Wer beschreibt die innere Verfassung der Gescheiterten, der Untüchtigen, der Kranken, der Versager?“ Im Mai 1981 formulierte Reding, warum er künstlerisch tätig ist und nicht, wie ursprünglich einmal angedacht, den Beruf des Lehrers ergriffen hat: „Ich würde mein Schreiben schon nicht als vergeblich auffassen, wenn einige der Leser empfindsamer geworden sind, nachdenklicher. Wenn also nach der Lektüre einer meiner Geschichten ein Denken, ein Überlegen einsetzt. Vielleicht entsteht aus dem Überlegen ein Handeln?“
Es gab eine Zeit, da wurde dieser Glaube an die Kraft der Literatur verlacht. Von den Achtzigern bis in die 2010er Jahre hinein etwa, als es ein gesellschaftlicher Konsens zu sein schien, dass es keine sozialen Klassen mehr gäbe, weil doch in dieser Demokratie jeder bei entsprechendem Fleiß aus eigener Kraft alles erreichen könne. Damals kam die Popliteratur auf, die das vormals gegen herrschende Verhältnisse gerichtete Florett der Ironie zum Gummischwert abstumpfte.
Im Jahr 2014 entbrannte in den Feuilletons dann auch eine wilde Literaturdebatte. Angestoßen hatte sie der Literaturinstitutsabsolvent und heutige Lektor Florian Kessler in einem Artikel für die Wochenzeitung Die Zeit. Seine Diagnose: Die durch die Schreibschulen von Leipzig bis Hildesheim ausgespuckte junge, deutsche, schreibende Generation entstamme fast ausschließlich einem gepuderten Mittelschichtsmilieu, weshalb in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur mangels Lebenserfahrung ein belangloses und wenig welthaltiges Gedöns dominiere. Armut, Hartz IV, Mietenwahnsinn oder Lohnkämpfe spielten demnach zwischen den Deckeln deutschsprachiger Romane schon lange nur noch ausnahmsweise eine Rolle.
Zwar fanden und finden beispielsweise Erzählungen mit randständigen Figuren durchaus ihren Platz in den Programmen großer Verlage. Von Clemens Meyer (Als wir träumten) über Kathrin Röggla (wir schlafen nicht), Thomas Melle (3000 Euro), Marlen Hobrack (Klassenbeste) bis zu Heinz Strunk (Der goldene Handschuh) lassen sich immer wieder viel beachtete Beispiele finden für Autorinnen und Autoren, die literarisch die Ärmsten dieser Gesellschaft in den Fokus rücken. Es sind aber nach wie vor Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Dank französischer Vorbilder wie Annie Ernaux und Nicolas Mathieu haben diese Themen inzwischen wieder verstärkt Einzug gehalten in die deutschsprachige Literatur; etwa durch das Genre der Autofiktion, in dem Autorinnen und Autoren sich nicht mehr hinter einer Fiktionsbehauptung verstecken, wenn ihre Texte auf eigenem Erleben beruhen. Weil sich besagte Vorbilder als verkaufsträchtig erwiesen haben, suchen Verlage auch wieder gezielt nach Geschichten „von unten“. Und dennoch: Die meisten belletristischen Novitäten großer Verlage vermitteln noch immer den Eindruck, niemand müsse einer zermürbenden Lohnarbeit nachgehen – eine so geringe Rolle spielt dort die Arbeitswelt.
Literarischer Blick in die ungelüfteten Stuben
Das zentrale Problem ist strukturell und im Zuge der Kessler-Debatte ausführlich zur Sprache gelangt: Aufgrund des mit sozialen Klassenschranken versehenen deutschen Bildungssystems schaffen es jene, die viel erlebt und damit auch viel zu erzählen haben, selbst meist nicht an Literaturinstitute und Schreibschulen, die eine marktgängige bürgerliche Übung vermitteln. Außerdem verlangen Verlage, die sich trotz allem idealistischen Eifer eben auch dem bestehenden Wirtschaftssystem unterwerfen müssen, nach verkäuflichen Stoffen. Das Schreiben, Lesen und Kaufen sogenannter anspruchsvoller Literatur sind weiterhin Domänen der akademisch Gebildeten, in deren Alltag die Armut keine Rolle spielt.
Der Schriftsteller Michael Wildenhain berichtete 2014, er habe als Mitglied einer Jury 220 Einsendungen literarischer Konzepte zu politischer Literatur gesichtet. Es sei häufig um die Nazi-Generation gegangen, oft auch um postkoloniale Perspektiven junger Menschen, die nach dem Abitur ein Auslandsjahr in Afrika verbracht hätten. Fast nie seien aber die sozialen Kämpfe der jüngeren Vergangenheit in Europa vorgekommen oder auch nur das fehlende Geld „einfacher Leute“. In den Verlagsprogrammen der vergangenen Jahrzehnte spiegelt sich das wider. Nun sollte niemand Literatur allein danach beurteilen, welches Thema sie verhandelt. Ein literarischer Text sollte nie ideologisch belastet sein. Doch kann er aus sich selbst heraus politisch wirksam werden. Wenn es mehr schreibenden Menschen gelänge, in ihrem Werk ästhetisch ambitioniert dieselben Fragen aufzuwerfen wie etwa Josef Reding, dann wäre viel gewonnen.
So gehörte er zur „Dortmunder Gruppe 61“, die als proletarisches Gegenstück zur elitären „Gruppe 47“ von u. a. Fritz Hüser und Max von der Grün gegründet worden war. Daraus ging später der berühmte „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ hervor. Doch warum sind heute Namen wie Günter Grass oder Martin Walser selbst jenen geläufig, die nie aus eigenem Antrieb ein Buch gelesen haben, während ein Mann wie Josef Reding immerhin in Nordrhein-Westfalen die verdiente Würdigung erfährt, im Rest der Republik jedoch als ewiger Geheimtipp gilt? Nun, mit dem Schreiben über „die da unten“ tut sich eine Kulturnation schwer, die so streng wie kaum eine andere in Europa zwischen „Hochliteratur“ und „Unterhaltungsliteratur“ unterscheidet. Ein besonders unangenehmer Aspekt kommt hinzu, wenn man bedenkt, wie nachhaltig die Nazis insbesondere das Werk
jener Menschen bekämpft haben, die ihren künstlerischen Blick in die ungelüfteten Stuben der Arbeiterklasse gerichtet haben – Hans Fallada, Irmgard Keun, Alfred Döblin, Marieluise Fleißer, Erich Kästner wären da beispielhaft zu nennen.
Reding blieb unbeirrt an den Themen dieser großen Vorbilder dran. Eisenbahner, Seemänner, Handwerker, Dachdeckerinnen, Filmvorführer, Kioskbesitzerinnen – die Arbeit derer, denen das Malochen weniger Selbstverwirklichung ist als pure Notwendigkeit im Überlebenskampf, behielt er immer im Fokus seines Schaffens. Aus heutiger Sicht mutet es arg aus der Zeit gefallen an, dass er ganz überwiegend Männer in den Mittelpunkt rückte, während Frauen oft zu Nebenrollen abgekanzelt sind. Damit fehlt in seinem Werk der Blick auf einen wesentlichen Teil prekärer Existenzen in der Zeit unmittelbar nach dem sogenannten Wirtschaftswunder. Dabei entgingen Reding in anderer Weise keineswegs die scheinbaren Randphänomene, die sich bei genauer Beobachtung als Bewältigungsstrategien deuten lassen. In Zwischen den Schranken etwa rettet ein langjähriger Bahnwärter ein in die Schienen geratenes Mädchen im letzten Moment vor einem heranrasenden Zug, was der Held trocken kommentiert: „Ist ja schließlich mein Revier, zwischen den Schranken. Da bin ich verantwortlich für wie ein – tja, wie ein König in seinem Reich.“ Für einen König in seinem Reich ist Lebensrettung ganz normal? Manche ertragen die Schufterei eben nur, wenn sie ihr eigenes Tagewerk im Kleinreden noch überhöhen.
Natürlich blieb bei einem weitgereisten Mann wie Reding auch die Perspektive der sogenannten Gastarbeiter nicht auf der Strecke. In der Weihnachtsgeschichte Als Juanita fort war lädt die Grundschülerin Ilse Velbert ihre Klassenkameradin Juanita über Heiligabend zu sich nach Hause ein. Deren Vater arbeitet als „Gastarbeiter“ bei der Müllabfuhr. Da fragt Ilses Bruder Piet, warum sie Juanita an diesem Tag eingeladen habe, an den 364 anderen Tagen des Jahres aber nicht? Da entgegnet Ilse, er habe ja wohl niemanden eingeladen! „Stimmt“, sagt Piet. „Weil ich mich schäme, ausgerechnet in der Weihnachtszeit jemand in unsere Bude zu lotsen und für eine Stunde das gute Herz zu spielen und mich dann nicht mehr um den anderen zu kümmern.“ Rodolfo etwa helfe er zwei Mal pro Woche beim Deutschlernen; nur eben nicht hier, sondern bei Rodolfo. Vielleicht, schlägt er am Ende vor, könne Ilse einfach mal Juanita besuchen.
„Feierabendliche Stroßtrupps der Reinlichkeit“
Weihnachten ist für den christlich geprägten Josef Reding also kein Freibrief für Sentimentalität, sondern eine Aufgabe für den Alltag, die der Autor in dem schönen Satz gebündelt hat: „Christus lebte nicht nur ein paar Stunden.“ Literatur als Schule der Empathie. Das ist eine der vielen Lehren, die Reding-Geschichten erteilen können. In einigen Texten spiegelt Reding das Verhalten der Deutschen noch konsequenter. So zum Beispiel in der Geschichte Im Schatten des Krans, wenn ein Bauarbeiter seinen italienischen Kollegen unablässig als „Itaker“ anspricht und einfach nicht bemerken will, wie verletzend das für den Betroffenen ist. Als er von dem derart Beleidigten auf die paternalistisch-freundliche Einladung zum Weihnachtsessen einen Fausthieb zur Antwort erhält, versteht er die Welt nicht mehr. Wie uneinsichtig kann ein Mensch nur sein?
Und dann sind da immer wieder Stories, in denen Reding es seinem Lesepublikum kaum möglich macht, das alltäglich Ungerechte distanziert zu betrachten, so als hätte es mit einem selber gar nichts zu tun. In Beinahe bis zum Baggersee, einer in das Gewand der Liebesgeschichte gekleideten Satire auf das Bildungsbürgertum, treffen der Mechaniker Niklas und die Studentin Beate einander wieder. Er: „Auch wenn ich nicht Sozialogie studier! Wenn ich ein kaputtes Auto wieder hingetrimmt hab, kann ich auch eine tiptoppe Rechnung dafür machen, manchmal mit vier Ziffern links vom Komma!“ Sie: „Was hast du gerade gesagt, Sozialogie? Aua-Aua!“ Sie macht sich über seine Unkenntnis lustig, und kurz darauf verwickelt er sie in einen Disput über die Hardyscheibe – ein Begriff, bei dem Beate sich geschlagen geben und erkennen muss, dass gerade für die sich bereits ganz oben Befindlichen der Hochmut vor dem Fall kommt.
Überhaupt, die Sprache in diesen Geschichten! Wenn eines der gehypten Großstadttheater der Gegenwart in neuen Stücken und Inszenierungen die „einfachen Leute“ darstellen will, dann geht es fast immer um die vermeintliche Dummheit und den angeblichen Rassismus des „Pöbels“.
Und wie sprechen die Figuren in aller Regel?
Ganz richtig, sie sächseln munter vor sich hin. Der Dialekt dient der aktuellen Hochkultur leider meist der pauschalen Denunziation ganzer Milieus, die man unterhalb des Parkettpublikums wähnt. Bei Josef Reding ist der Dialekt dagegen ein literarisches Mittel, das die Figuren kennzeichnet, ohne sie zu verdammen oder zu verherrlichen. In leicht stilisierter Form bringt er die aufs Nötigste und Knappste beschränkte und spröde Diktion des Ruhrgebiets zum Ausdruck, ohne dass die Erzählinstanz sich über die Menschen erhebt, deren Alltag sie bis ins peinvoll Private ausleuchtet. Neben der klassenpolitischen Authentizität erfüllt diese Herangehensweise auch die wichtige Funktion, die meist ethisch aufgeladenen Plots bloß nicht ins Pathetische abgleiten zu lassen.
Immer wieder findet er für Substantive treffende Beiwörter („Vom heftigen Lauschen wurde die Frau müde“, Schlachtung des Hauses), verleiht auch der letzten Drecksarbeit eine poetische Würde („Feierabendliche Stoßtrupps der Reinlichkeit“, Die Stunde dazwischen), schöpft als Beleidigungen getarnte Zärtlichkeiten („Oller Fillesoof“, Keine Einfahrt für Wiczorek) und braucht zur Illustration komplexer Probleme wie des „sozialen Aufstiegs“ nur wenige Worte („Er möchte mir helfen, aber er möchte nicht, dass ich über ihn rauswachse“, Halbrechter Wawra vom Platz).
Die sozialen Probleme im Werk Josef Redings sind – leider – auch die sozialen Probleme der Jetztzeit. Wenn die alte Frau Klarek in Jeden Tag einen Brief aus Windworth krankenhausreif unter einem ihrer Gerümpelstapel begraben liegt und erst ein Sanitäter den sich im Halbwissen wohlfühlenden Nachbarsleuten die gerümpften Nasen zurechtrücken muss, dann richtet sich diese Kritik unmittelbar an eine Gesellschaft, die vor lauter Individualisierung keinen Raum mehr lässt für die Vereinsamten, die nur eine Tür weiter unter schweren Depressionen leiden könnten.
An den Schranken der Klassengesellschaft
Manche der Texte von Reding reproduzieren durch einen aus heutiger Sicht diskriminierenden Sprachgebrauch und einen bisweilen paternalistischen Erzählton genau jenen Rassismus, den sie kritisieren wollen. Doch war Reding ein Kind seiner Zeit, und als solches lässt sich sein Werk kritisch in den historischen Kontext einordnen, ohne die darin enthaltene Aktualität zu vergessen. In Wächter der Verfassung geht es etwa um den Schwarzen Zachary Crust, der als Wärter im National Archives Museum in Washington arbeitet, wo die Bill of Rights, die Verfassung und die Unabhängigkeitserklärung der USA ausgestellt sind. Weil von ihm ein „ordentliches Aussehen“ verlangt wird, muss er zum Friseur. Auf dem Weg dorthin passiert er mehrere Salons, die keine Schwarzen bedienen – angeblich, weil die Werkzeuge für das krause Haar ungeeignet sind. Ernsthaft? So kreativ lügt sich die selbsternannte größte Demokratie der Erde also ihren strukturellen Rassismus zurecht! Eine solche Geschichte sollte in Deutschland zur Pflichtlektüre in der Schule ernannt werden;
einem Land also, das sich in seinen Parlamenten eine demokratiefeindliche Rechtsaußenpartei wie die AfD leisten zu können glaubt.
Wer die AfD nicht wählt, sollte sich von Reding aber ebenso angesprochen fühlen. Jerry in Harlem ist dafür eines der schönsten Exempel. Mitten in New York stachelt eine Gruppe Kleinganoven den in ärmlichen Verhältnissen hausenden Jerry dazu an, ein paar Blätter von einem Zeitungsstand zu stehlen zur Ablenkung, damit die Jungs die Kasse rauben können. Der Plan geht schief, denn Jerry gerät in die Fänge eines Polizisten. Eines weißen Polizisten, was für den Schwarzen Jerry die Lage umso misslicher macht. Eigentlich. Denn dieser Policeman mit der Nummer 284 lässt Jerry mit einer Ermahnung davonkommen. „Natürlich hätte die Sache auch anders ausgehen können“, lautet die Moral am Ende der Geschichte: „Was wäre zum Beispiel, wenn Jerry statt an Peter Browsing an Policeman 283 geraten wäre, an Gordon F. Brackleg?“
Vorarbeiten zu Arme haben keine Lobby
Ein politisches System mag noch so ungerecht sein, in ihm agieren vor allem: Menschen. Und der einzelne Mensch kann in einem Machtapparat einen feinen Unterschied ausmachen, der manchen Chancen eröffnet oder sie sogar vor der Elimination bewahrt. Es geht also darum, Ermessensspielräume auszureizen, die es in demokratisch verfassten Klassengesellschaften wie den USA oder der Bundesrepublik Deutschland immer gibt. Diese Wärter an den Schranken der Klassengesellschaft sind umso bedeutsamer, wenn man sich jenen Grundmechanismus des Kapitalismus vor Augen führt, den Reding in einem seiner Liedtexte so eingängig benannt hat:
„Arme haben keine Lobby, / keinen Spruch, kein Mandat, / kennen nicht die Macht als Hobby / sitzen nicht im Hohen Rat. (…) Wer nimmt die Armut von den Armen? / Sie brauchen Recht, nicht nur Erbarmen!“
Über den Autor:
Christian Baron, geboren 1985 in Kaiserslautern, lebt als freier Autor in Berlin. Im Sommer 2022 erschien sein Roman Schön ist die Nacht (Claassen). Zusammen mit Maria Barankow gab er 2021 die Anthologie Klasse und Kampf heraus (Claassen). Im Frühjahr 2020 erschien von ihm der autiobiografische Roman Ein Mann seiner Klasse (Claassen).