von Andrea Karimé
Zunächst
Zumutungen[1] in der Kinderliteratur sind aus zwei Perspektiven zu betrachten: Es gibt sinnvolle Zumutungen, die Kinder stärken, irritieren, zum Denken anregen und ernst nehmen. (Das Wort Zumutung ist eine Ableitung von Mut, was Kühnheit oder Unerschrockenheit bedeutet.) Es gibt aber auch Zumutungen, die verletzen, verunsichern und diskriminieren.
Ich werde in diesem kurzen Artikel beide Formen der Zumutung skizzieren und das Kindergedichtbuch Guten-Tag-Texte von Josef Reding in ihren Kontext stellen. Der Titel wirft zunächst ein wunderbares adultismussensibles[2] Licht auf Sprache, und deren Möglichkeiten für Kinder, sie zu erfinden. Die poetische Wortschöpfung verspricht einerseits ein Ernstnehmen von Kindern und verweist darauf, dass der Autor Kindern auch scheinbar nicht kindgerechtes Vokabular zutraut und im guten Sinne zumutet. Zudem schwingt in meinen Ohren die geöffnete Tür mit, das Wort Willkommen als eine Haltung des Autors und einen Verweis darauf, dass Kinder repräsentiert sein könnten, die Marginalisierungserfahrungen machen. Und als Drittes sind Gedichte für Kinder meistens eine positive Zumutung. Eine Herausforderung. Eine Literatur, die nicht nur auf Plot und Held*innenreisen abzielt, sondern die Sprache von Kindern erweitern und inspirieren kann.
Auch wenn ich einige Anliegen und Ansätze des Autors durchaus schätze, werde ich aber natürlich feststellen, dass dieses
Kindergedichtbuch Kindern nicht mehr zuzumuten ist, denn „[g]ewiss wird das vehemente Eintreten des Autors für die Überzeugung von der Gleichheit aller Menschen dadurch nicht entwertet.“[3]
Für eine Kinderbuchautorin mit Rassismuserfahrung, also eine Kinderbuchautorin of Color, ist es natürlich eine unangenehme Zumutung, sich mit rassistischen Kindergedichten auseinanderzusetzen. Doch in Zeiten, in denen sich rassistischer und antisemitischer Populismus verstärkt, Kinderbuchautor*innen of Color wieder aus den Verlagsvorschauen verschwinden[4] und weiße Kinderbuchautor*innen mit „Diversity-Themen“ unendlich punkten und veröffentlichen können, ist es unumgänglich den Rassismus in der Kinderbuchbranche und dessen Auswirkungen auf mehr als 40 Prozent unserer Kinder in Deutschland zu thematisieren. In diesem Kontext ist auch die einzufordernde Vielstimmigkeit bedeutsam, also dass Kinderliteratur im Interesse unserer diversen Kinder nicht nur einseitig aus weißer (christlich sozialisierter, heteronormativer, unversehrter) Perspektive geschrieben und repräsentiert werden darf. Und es liegt mir am Herzen die große Zumutung zu thematisieren, die das Fehlen der Vielstimmigkeit für fast die Hälfte unserer Kinder darstellt.
Über positive Zumutungen: Was trauen wir Kindern zu?
„Was willst du den Kindern noch alles zumuten. Lass den Kindern doch ihre Kindheit!“, so eine sehr privilegiert aufgewachsene weiße deutsche Kinderbuchautorin, – vor einigen Jahren auf einem Lesefest in der Schweiz. Sie bezog sich auf mein Kinderbuch Nuri und der Geschichtenteppich, in dem ein Mädchen, aus dem Irak geflohen, ihr Leben in Deutschland mit den Kräften der Fantasie und des Muts meistert: Eine alltägliche kindliche Erfahrung in Deutschland. Durch Krieg und Flucht traumatisierte Kinder erfahren Rassismus auf deutschen Schulhöfen und Straßen – ich erzählte also nichts anderes als Realität.
Meine Kollegin aber fand dies eine Zumutung. Im Grimmschen Wörterbuch wird zumuten folgenderweise erklärt: „unbilligerweise etw. von jmdm. verlangen“. Doch wer entscheidet, was „unbillig“, also unangemessen ist, oder nicht? Welchen Mut, welche Kraft des Denkens Kinder haben? Und wer entscheidet, dass etwa fehlende Repräsentation und rassistische Sprache keine Zumutung, neutral und unpolitisch sind?
Als ich noch Grundschullehrerin war, hatte ich ein Gespräch mit einer Mutter, die ihrem 9-jährigen Sohn von Auschwitz und Anne Frank erzählt hatte. Ich war bestürzt und voll Bewunderung zugleich. Sie sagte: Was Kinder damals erlebt haben, ist viel schlimmer als das, was mein Sohn erlebt, wenn er davon hört. Die großartige jüdische Jugendbuchautorin Mirjam Pressler formuliert das so: „Dinge, die man früher Kindern und Jugendlichen im wirklichen Leben zugemutet hat, können die Kinder der heutigen Generation mit satten Bäuchen und in warmen Zimmern sehr wohl auch lesen“[5]. Also auch Dinge, die Kindern heute zugemutet werden, im wirklichen Leben.
Viele meiner Kolleg*innen of Color erhalten Absagen von Verlagen mit der Begründung, ,überfrachtetʻ und ,Kindern nicht zuzumutenʻ, etwa wenn eine Hauptfigur vielschichtige Erfahrungen mitbringt: geflüchtet und queer, hochsensibel und mehrsprachig, migriert und krebskrank. Intersektionale Erfahrungen wie sie viele Kinder in Deutschland täglich machen. Manche dieser Manuskripte wandern weiter und finden noch einen fortschrittlichen Kleinverlag, wie etwa mein Buch Antennenkind, in dem der hochsensible Held Köbi seine libanesische Tante Ruh trifft, der der Krieg in den Knochen steckt. Viele dieser Manuskripte lagern aber auf ewig in Schubladen, werden im Selfpublishing realisiert oder erstmal auf Englisch veröffentlicht. Das, was als ,Zumutungʻ oder ,überfrachtetʻ abwiesen wird, nenne ich wichtige Sichtbarkeit, Repräsentation und Vielstimmigkeit. Und diese sollten die Kinderbuchlandschaft unendlich erweitern und notwendig innovieren.
Auch Josef Reding hat Kindern viel Positives zumuten wollen. In seinem Kindergedichtband schreibt er zum Beispiel von Armut und wie sie Kinder in Not bringt („Klaus hat geklaut“), von Krieg („Von Fall zu Fall“), von Rassismus („Dein Segel ist schwarz“), und er verdichtet Sozialkritik zum Beispiel in dem Gedicht „Das hat mit Politik zu tun“. Er denkt über Rollenbilder nach („Rollenbild Mann“), und schreibt sogar ungereimte „Gedichtgeschichten“, also Prosagedichte wie der „Arbeitselefant“. Das alles schätze ich, denn hier wird Kindern tatsächlich erst einmal viel zugetraut, im guten Sinne zugemutet.
Über problematische Zumutungen: Diskriminierende Inhalte und Sprache und Exklusion in der Kinderliteratur
„Lass den Kindern doch ihre Kindheit!“, so die Forderung der Kollegin. Abgesehen davon, dass wir immer danach fragen müssten, welche Kindheit die Kollegin meint, und welche Kinder – das würde hier zu weit führen –, sieht die Kollegin wie viele andere Kinderbuchmenschen nicht, dass Kindern auf dem Kinderbuchmarkt sowieso immer sehr viel Problematisches zugemutet wird.
Gehen Sie durch Buchhandlungen werden Sie in der Regel die immer noch fehlende Repräsentation von marginalisierten Kindern sofort bemerken können. Für Kinder of Color etwa ist das eine alltägliche problematische Zumutung und Verunsicherung, über die Maisha Auma hinreichend geforscht und veröffentlicht hat.[6] Für Eltern marginalisierter Kinder bedeutet dies, lang und gründlich zu recherchieren, auf englischsprachige Bücher zurückgreifen zu müssen oder in viele saure Äpfel zu beißen.[7]
Hinzu kommen die in vielen Büchern immer wieder neu reproduzierten subtilen und direkten diskriminierende Inhalte und die verletzende Sprache. In den Gedichten von Josef Reding finden sich teilweise Bemühungen, auch marginalisierte Kindheiten zu repräsentieren. Wir finden an einer Stelle Kinder anderer Hautfarbe und an einer anderen ein armes Kind, welches stehlen muss. Ich finde aber etwa kein Gedicht über die Kinder der Arbeitsmigrant*innen. Auch die damit verbundene „Spracheinwanderung“ findet sich nicht in Gedichten wieder, geschweige denn ein „Papa und Papa“. Stattdessen weitere Spuren internalisierter patriarchaler rassistischer Perspektive auf Kindheit.
Wenn eine Zeile lautet, „Fragt, fragt, fragt, / bis man euch gesagt / wie Vater eure Mutter nahm“, wird das eigentlich sozialkritisch und emanzipativ gemeinte Gedicht „Fragt, fragt, fragt“ ein Trigger für Frauen und Mädchen. Hier schwingt neben der stereotypen
Darstellung der männlichen Rolle sogar sexuelle Gewalt mit. Und natürlich reproduziert es ausschließlich dominante Kindheit in einer intakten heteronormativen weißen Familie.
An anderer Stelle dichtet der Autor: „Dein Segel ist schwarz, / und seins ist gelb, / und meins ist weiß mit Flecken“ und erzählt damit diverse Kindheit in der (alten) rassistischen Farb- und Rassenlehre.[8] Der Vers in weiterer Folge lässt keinerlei andere Deutung zu: „… /uns kümmert nicht die Haut im Gesicht/“. Das gut gemeinte Gedicht, dass integrative Absichten hat, wird so zu einem Trigger für alle Kinder of Color. Es löst Verunsicherung und Selbstzweifel aus.
Der Autor widmet sich also immer wieder der prekären Kindheit benachteiligter Kinder. Aber er tut dies enttäuschenderweise aus seiner (sehr beschränkten privilegierten) weißen Perspektive, die naturgemäß Empathielücken aufweist und so Rassismen unmerklich reproduziert. Deshalb kann das Werk Kindern nicht zugemutet werden.
Abgesehen von den inhaltlichen und sprachlichen Diskriminierungen und der Verletzung der fehlenden Repräsentation ist es natürlich eine Zumutung für die vielen marginalisierten Kinder, dass, wenn sie einem Autor im Rahmen einer Leseförderveranstaltung begegnen, dieser in der Regel weiß ist, denn aktuell ist die überwältigende Mehrheit der Autor*innen und Akteur*innen der Kinderliteratur (Produktion, Kritik und Vermittlung) immer noch weiß. Marginalisierte Kinder werden ohne aktive Lese- und Schreibvorbilder mit dem Gefühl des „Unbedeutendseins“ zurückgelassen. Dass viele von ihnen sich daher nicht für Literatur interessieren, liegt auf der Hand.
Zuletzt
Natürlich habe ich auf Grund des begrenzten Formats vieles nur angerissen. Unberücksichtigt geblieben ist etwa die Frage nach den Ursachen. Über die Empathielücke weißer Menschen beim Schreiben von Kinderbüchern hat zum Beispiel Emilia Roig[9] intensiv nachgedacht und ausgeführt, dass Kids of Color früh lernen, die Welt aus der Perspektive der weißen Kinder zu betrachten, weil Kinderbücher, Trickfilme, Fernsehen und Werbung überwiegend aus ihrer Perspektive erzählt sind. Weiße Kinder (spätere Autor*innen) lernen das nicht. Unausgeführt bleibt unter vielem anderen auch die Tatsache, dass Autor*innen, die über marginalisierte Kinder schreiben wollen, jedoch selbst die Erfahrungen nicht gemacht haben,
sich in der Regel dessen bedienen werden, was in der Dominanzkultur als Erzählung über die Gruppe bekannt ist. Und das sind häufig verletzende Stereotype, die immer noch reproduziert werden, wenn nicht akribisch kritisch sensibel recherchiert und lektoriert wird, denn die Dominanzperspektive wird uns immer beigebracht und dadurch als „Neutrale Kinderliteratur“ etabliert, die unendlich viele problematische Zumutungen enthält. Zu Redings Zeiten, wie jetzt.
Endnoten
[1] S. a. mein Essay „Zumutungen, Zitterfische, Zauberdinge“ in: Andrea Karimé: Wörter, Wörter Himmelörter, Konkursbuchverlag 2023.
[2] Unter Adultismus ist die „[…] gesellschaftlich ausgrenzende Haltung gegenüber Kindern auf Grund ihres geringen Alters und ihrer vermeintlichen Unreife“ zu verstehen. Zit. nach Markus Gabriel: Liebe Kinder oder Zukunft als Quelle der Verantwortung, Kijona Verlag 2023.
[3] Zit. nach Josef Reding Blog | Ambivalenter Antirassismus
[4] Vergleiche mein Gespräch mit Georgina Fakunmoju im Podcast „My PoC Bookshelf“ über die Verlagsvorschauen des Frühjahrs 2024.
[5] Gefunden in: http://leselenz.eu/wp-content/uploads/2019/06/Jurybegru%CC%88ndung_LeseLenz_Preis-2019_fu%CC%88r-Anja-Tuckermann.pdf
[6] Siehe: Held*innen gesucht: Kinder of Color im Bilderbuch – Magazin – Goethe-Institut Finnland
[7] Siehe auch mein Gespräch mit Georgina Fakunmoju im Podcast My PoC Bookshelf über die neuen Vorschauen 2024. #35 Frühjahr 2024 – Was gibt’s Neues aus den Verlagen? | My PoC Bookshelf. Der Buch-Podcast (letscast.fm)
[8] „Die alte (rassistische) Farbenlehre ,schwarz, weiß, gelb und rotʻ für die Menschengruppen war von Anfang an künstlich: Es gibt nur verschieden stark pigmentierte Haut, aber (außer bei den Simpsons) zum Beispiel keine gelben Menschen, auch keine weißen, schwarzen oder roten!“, zit. nach Hautfarben: Vielfalt ja, Rassen nein – DemokratieWEBstatt.at. Demgegenüber steht die politische Selbstbezeichnung Schwarz mit großem S.
[9] Viele Autor*innen haben darüber nachgedacht und auch dargestellt, was weiße Autor*innen tun können, unter anderem Alice Hasters, Mohamad Ahjahid, Tupoka Ogette.
Über die Autorin:
Andrea Karimé ist in Kassel geboren. Nach dem Studium der Musik- und Kunsterziehung arbeitete sie 12 Jahre als Grundschullehrerin. Seit 2007 lebt sie als freie Kinderbuchautorin und Dichterin in Köln. Für ihr Werk wurde sie mit vielen Stipendien und Literaturpreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem „Preis der Jungen Literaturhäuser 2023“ und dem „Friedrich-Bödecker-Preis 2024“.
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Bild von Anna-Lisa Konrad