von Maria Babusch

1

Durch die Frontscheibe sieht Gabriele nur noch Nacht. Das liegt am Schnee; der Schnee, der liegt immer höher und fällt immer noch und obwohl er so weiß ist, macht er alles dunkel. Dass er nicht aufhört, der Schnee, der Junge, der neben ihr im Auto sitzt, nicht aufhört zu reden. Gabriele friert. Die Schemen der Häuser auf der anderen Straßenseite erkennt Gabriele nur, weil sie weiß, dass sie da sind. Vielleicht sind sie das auch gar nicht mehr. Vielleicht hat der Schneesturm sie mitgenommen und wenn es aufhört zu schneien, wird man sehen, dass die Häuser, dass die Stadt nicht mehr steht, dass auch sie aufgehört hat.
Gabriele ist kalt Gabriele ist dunkel Gabriele will dass es aufhört und also schreit Gabriele.

da sind frauen in den kurzgeschichten josef redings. selbstredend nicht sehr viele, aber es gibt sie. oft treten sie auf, wie in dem immer noch etwa an schulen beliebten text „ellebracht begeht fahrerflucht‟, als gedanke im kopf des protagonisten. während er draußen in der welt ist und die handlung vorantreibt, sind sie zuhause. verschärfen von dort, ohne etwas zu tun, seine konflikte, maximieren seine fallhöhe. sind gegenstand der handlung, nicht handelnde.

literatur                                  und arbeit

         literatur und arbeit

              literatur der arbeit literatur der arbeitenden                 engagierte, materialistische, dialektisch                          gewendete, politische literatur

schneewehe. arbeiterliteratur. josef reding beschreibt das ruhrgebiet insofern es gegenstand seines schreibens ist als eine arbeitslandschaft. die arbeit hängt für reding im ruhrgebiet in der luft, sie steckt im wasser und in der erde, ist bodenmineral wie die steinkohle, noch vor ihr. den bewohnern dieser arbeitslandschaft steckt die maloche in jeder faser, sie sind von ökonomischen zwängen durchtränkt.

Das kurze Prosastück Vorbei an der Schneewehe von Josef Reding, und das ist schon der ganze Unterschied, handelt nicht von Gabrieles Schrei, obwohl es im Text um genau diesen geht. Es handelt stattdessen von einem namenlosen Schriftsteller und Ich-Erzähler des Texts, der direkt zu Beginn das Wort hat: Woher ich die Ideen zu meinen Texten nehme? Und wie ich die Ideen zu Geschichten mache? Das Szenario des Texts ist klar; der Schriftsteller wurde aufgefordert zu sprechen, was er ausdrückt, indem er die Frage wiederholt, die an ihn gerichtet wurde.

Der Text impliziert ein Publikum, das man in einem Saal auf Stühlen sitzend sieht. Sogar sieht, wie es vor Beginn des Texts den Saal betreten hat, in kleinen Gruppen hereintropfend, wir können uns als Leser*innen in dieses Publikum hinein imaginieren, möglicherweise mit einem Programmzettel in der Hand. Hören wir dem Schriftsteller zu, er wird uns, indem er uns einlädt, die Genesis seiner Texte mitzuerleben, nicht weniger verraten, als wie für ihn die Frau in die Literatur kommt. Gehen wir sein Spiel mit, und erlauben wir uns die Dinge etwas einfacher zu machen, indem wir dem Schriftsteller den Namen Josef Reding geben.

 

 

2

Sie bückt sich, geht in die Knie, stellt sich auf die Zehenspitzen. Gabriele reinigt die Oberflächen. Das ist dem Herrn wichtig. Dass die Oberflächen rein sind. Gabriele nimmt eine Bürste und schrubbt, einen Mopp und wischt, einen Wedel, ein Tuch, einen Schwamm und reinigt die Oberflächen mit kreisenden Bewegungen. Und hofft, dass der Herr zufrieden ist, der in einer großen Wohnung lebt, in der es viele Oberflächen gibt.

Nach der Arbeit versucht Gabriele sich nicht die Handrücken aufzukratzen und nimmt die Straßenbahn zum Abendkurs. Gabriele lernt die Deutsche Einheitskurzschrift nach dem Wiener Entwurf.

Sie möchte einmal als Sekretärin in der Industrie arbeiten, denn, und das vergisst man oft, denkt Gabriele, bei all dem was die Fabriken hervorbringen, produziert die Industrie ja auch viel beschriebenes Papier. Dafür möchte Gabriele gern verantwortlich sein. Mit den Arbeitern hätte sie dann auch nichts zu tun, an denen lag es nicht zu bestimmen, was sie schreiben sollte.

Nur mit den feinen Herrn, die Zuhause reine Oberflächen hatten, sodass sie selbst jeden Tag ihre guten Sachen tragen könnte, ohne vor dreckiger Kleidung Angst haben zu müssen, so wie sie in diesem Moment, da der Junge ihr die Hand auf die Schulter legt, Angst hat um ihren Mantel.

Aber weil die schmutzige Hand des Jungen nunmal auf ihrer Schulter liegt und sie also Angst um ihren Mantel haben muss; da sie noch weit davon entfernt ist, die Sekretärin eines feinen Herrn zu werden, weil sie immer nach den Putzmitteln roch, mit denen sie die Oberflächen reinigte, schrie Gabriele.

Der Josef von der Schneewehe zeigt bald, dass er als Redner/Erzähler nicht an Ort und Stelle gebunden ist. Er nimmt sein Publikum mit nach draußen, in den Alltag der Stadt, in der er immer weiß, wo was los ist: Ich habe einen Einfall. Es fällt etwas in mich ein. Er muss nicht einmal etwas tun, die Dinge kommen zu ihm. An anderer Stelle spricht er vom Material, das ich mir von der Wirklichkeit zuspielen lasse. Woher die Ideen kommen, hat er damit schon beantwortet: Die Wirklichkeit.

ein anachronistischer begriff, arbeiterliteratur. er wird hier trotzdem verwendet werden, als begriff für texte, in denen die figuren in soziale verhältnisse eingebunden sind. genauer, in der die figuren angehörige einer klasse sind und wie man solche texte schreibt. bei der arbeiterliteratur sich also für dessen ästhetische probleme interessieren. arbeiterliteratur könnte dann heißen, jene literatur, die ihre eigenen bedingungen reflektiert.

 

zu fragen wäre, wie sich die arbeiterliteratur zur wirklichkeit verhält, die sie beschreiben will. wie hoch bei ihr der anteil ist von einfällen, eingefallenem. und wie viel wirklichkeit sie erst selbst noch erzeugt. ob es nicht etwa nötig ist, um ein produktionsverhältnis erzählbar zu machen, ein anderes auszublenden. und ob das vielleicht für die arbeiterliteratur, für josef reding, bedeutet hat, die frau als das außerhalb ökonomischer zwänge zu positionieren. die frau als ein problem-feld von vielen in der arbeitslandschaft. das zu bestellen ist, oder auch nicht. inwiefern der mann alleine steht in seiner arbeitslandschaft und alleine stehen muss, um arbeiten zu können.

 

ich schreibe diesen text, und denke, ich soll ihn u. a. deshalb schreiben, als junge autorin, die in unna geboren und in kamen, essen und dortmund, kurz: an der ruhr aufgewachsen ist, deren familie im späten 19. jahrhundert ihr zuhause an der ostsee verlassen hat, um vom kohlepott verschluckt zu werden. die wirkung, die das benennen dieser tatsachen in einem literarischen text erzeugen soll, ist eine familiarität herzustellen, zwischen textsubjekt und textobjekt, mir und josef reding. ich möchte versuchen, eine andere art der familiarität zu kreieren, indem ich mich dem vokabular einer literatur der arbeitslandschaft annähere, eine sprachliche auseinandersetzung anstrebe mit der arbeiterliteratur, was auch immer das jetzt ist. ich möchte, dass dieser text im gespräch ist mit ihren traditionen, zu denen ich josef reding rechne, indem ich die arbeiterliteratur gegen sich selbst wende.

Es ist ein kurzer Absatz, in dem Josef beschreibt, wie er während einer Schneewehe im Auto sitzt, (und dadurch, dass er es sagt, eine neue Räumlichkeit öffnet, wir Publikum sind jetzt mit Josef und seinem Fahrer im Auto, ein bisschen quetschen müssen wir, damit der ganze Saal auf die Rückbank passt, aber es geht schon,) und aus dem Fenster im Vorbeifahren ein anderes Auto sieht, das sich im Schnee festgefahren hat, und in dem Auto die „Umrisse zweier Personen‟. Jetzt geht alles schnell, Josef begibt sich seinerseits von einem Auto ins nächste, identifiziert, wer in ihm sitzt:

„Ein Junge und ein Mädchen? Ja, Junge und Mädchen. […] Ich sehe den Jungen vor mir, wie er verbissen das Auto aus dem Schneehügel zwingen will.
Warum verbissen?
Das Mädchen treibt ihn an. Es beschimpft ihn. Mehr noch: Es schreit wie unter einem hysterischen Anfall.“

Kurz darauf gibt Josef dann dem Jungen den Namen Jörg und dem Mädchen den Namen Gabriele. Er wird für Gabrieles Verhalten auch noch einmal den Begriff der Hysterie verwenden; des Weiteren in Erwägung ziehen, ihren Schrei psychologisch zu erklären, ihr eine traumatische Vorgeschichte zu geben, es dann aber doch dabei belassen, dass sie nun einmal schreit – er will die Geschichte nicht überfrachten.

 

 

3

Gabriele lernt die Deutsche Einheitskurzschrift. Der Lehrer im Abendkurs ist streng. Meine Damen, sagt er, sie erlernen hier die Redezeichenkunst, sagt er, Meine Damen, Franz Xaver Gabelsberger meine Damen. Oft sieht es dabei aus als schlüge er die Luft. Die Augen hinter seiner kleinen Brille wie die eines Tiers. Schneller meine Damen, Sie können es gleich vergessen wenn Sie es nicht einmal auf 200 Anschläge die Minute bringen.

Gabriele schreibt, so schnell sie kann. Auch wenn sie ihren Rücken spürt vom Schrubben und ihre Haut Risse hat, und auch wenn wie heute der Schnee schon den ganzen Tag und immer noch fällt. Aber manchmal kann sie die Zeichen auf dem Blatt vor sich nicht mehr richtig lesen, sie sind verwischt und verschwommen, verschmieren in kreisenden Bewegungen und das Papier ist eine Oberfläche, die sie reinigen muss aber nicht kann und das letzte, was Gabriele sich erlauben darf, ist im Stenokurs zu schreien.

 

er schreibe kurzgeschichten, sagte reding einmal, da diese auch ein arbeiter auf dem weg zur schicht in der straßenbahn lesen könne. die wahl der gattung wird dem takt der arbeit angepasst. reding weiterzudenken hieße zu fragen, welche literarische gattung, welcher stil, dem rhythmus feminisierter arbeit entspräche.

das redings begriff der arbeitslandschaft primär als ein literarischer, nicht als ein politischer zu verstehen ist, zeigt sich in dem kurzen text ich bin nur hausfrau. reding beschreibt hier klar und nüchtern die prekarität weiblicher arbeit durch unter- und nichtbezahlung und schließt, sich auf ein gerichtsurteil beziehend, mit der forderung nach einem montatslohn von über 4000 mark für hausfrauen.

was dem text abgeht, ist die literarische ausgestaltung. reding kann die zustände benennen, sie aber künstlerisch nicht bearbeiten. literarizität wird hier nur behauptet; an der stelle einer figur, die es im text nicht gibt, wird zu anfang wieder eine rhetorische frage gestellt:

„Man kennt es von Quizveranstaltungen. Da fragt der Spielleiter die Dame aus dem Publikum, was sie beruflich mache. Und dann kommt manchmal etwas verschämt der Satz: ,Ich bin nur Hausfrau.ʻ Nur Hausfrau?“

der trick verfehlt: alles was hier bezweckt wird, ist ein wink an die frauen, sie selbst seien es, die den wert ihrer arbeitskraft verkannten. am ende tragen sie gar mitschuld an ihrer ausbeutung, hinzu die bemerkung, ihre antwort sei verschämt, die übersieht, dass die scham nicht aus der eigenen geringschätzung der frauen stammt.

 

Gabriele schreit und schreit weiter und hört man diese Geschichte, erinnert man sich an das Publikum, das sich das alles vom Schriftsteller Josef so darlegen lässt, fragt man sich fast, warum niemand aufspringt, die vierte Wand durchbricht und der Frau, die so schreit, zur Hilfe kommt. Dann aber erinnert man sich, dass Gabriele nur eine Figur ist, sie entstammt nicht der Wirklichkeit.

 

 

4

das einfühlungsvermögen, das reding in der literarischen gestaltung seiner frauenfiguren fehlt, ist mit umgekehrten vorzeichen in diesen gespiegelt. wo bei den männern die materiellen bedingungen im fokus stehen, erscheinen die frauen als das primat der emotionalität. die ökonomie, die sie am meisten sorgt, ist der eigene gefühlshaushalt.

gerade weil sie ein für reding unüblicher text ist, kommt dieses verhältnis in der kurzgeschichte frau töpfert verweigert den tarif am besten zum ausdruck. es ist eine geschichte von zwei frauen, die sich über geld unterhalten. es gäbe bei reding genug beispiele für frauenfiguren, deren gefühlsleben sich im grunde auf gefühle zu oder über männer beschränkt. nicht so hier. frau töpfert verlangt von der frau vom sozialamt eine erhöhung ihrer monatlichen bezüge. hier scheint endlich eine frau zu sein, die für die verbesserung ihrer umstände kämpft, die einer repräsentantin der menschenfeindlichen institutionen, die ihre existenz bestimmen, ein bisschen würde abzuringen sucht. die wendung der geschichte enttarnt eine solche lesart als illusion. frau töpfert braucht das geld nicht zum stillen der dringlichsten bedürfnisse, nicht zum überleben, sondern aus einsamkeit. sie besticht damit sozusagen die nachbarskinder, ihre freizeit mit ihr zu verbringen, in der sie sonst nachhilfeunterricht geben würde, für den man sie bezahlt.

die, ohnehin männliche, einteilung von unter- und überbau wird verkehrt, die ökonomischen zwänge nur vorgeschoben, hinter ihnen kommt eine alleinstehende frau zum vorschein, die nicht klar kommt, so wie keine alleinstehende frau je klar kommt.

zu dem noch der leichte nebel der unmoral wieso lädt sie sich überhaupt fremde kinder in die wohnung?

Die Männer bei Reding haben die Frage der Emotionalität, d.h. Sozialität, komplett in die Frau hinein verlagert. Diese Rationalisierung erlaubt ihnen als umso selbstständigere Subjekte aufzutreten.

Und also stehen die Männer bei Reding alleine in ihrer Arbeitslandschaft, der peitschende Wind trifft nur ihr Gesicht allein. Der Schrei von Gabriele ist dort nicht zu hören.

Die literarische Wegrationalisierung der Frau macht die männlichen Figuren zu Helden. Darin haben diese Texte der Arbeitslandschaft mit der Bürgerlichen Literatur, zu der sie sich in Opposition wähnen, alles gemeinsam. Warum muss die Frau so schreien, fragen sich diese Helden; es besteht natürlich für sie kein Weg, es herauszufinden. Denn sie leben in einer mit literarischen Mitteln hergestellten Wirklichkeit, in der es eine einfache Tatsache ist, dass Frauen manchmal schreien. Da kann man nichts machen.

 

 

5

Das Geld, das Gabriele mit dem Putzen verdient, reicht nicht, um zuhause auszuziehen. Jörg möchte, dass sie mit ihm zusammen wohnt. Aber Jörg verdient selber gerade genug, um den Tank seines Autos vollzumachen. Und in der Industrie möchten sie Sekretärinnen, die unverheiratet sind.

Jörg redet auf Gabriele ein, wie so oft. Ihr kommt es vor, als würde es in seinem Auto immer enger werden, je mehr Schnee es draußen weht, je mehr es draußen nachtet. Aber das sind nur seine Worte, sie machten das Auto voll und eng. Er redete und redete und drehte das Zündschloss, er redete und schimpfte, über den Wagen, die Reifen, das Wetter. Aber Gabriele wusste, dass sie es war, sie steckte hinter dem Wetter und hinter dem Wagen, steckte auch hinter den Reifen und allen andern Dingen. Auch wenn er es so nicht sagen würde. Stattdessen sagte er hundert andere Dinge und plötzlich verstand sie, es war nicht wegen der Arbeit, nicht weil sie neulich wieder eine der Oberflächen des Herrn vergessen hatte, nicht wegen rissiger Haut auf den Handrücken, nicht dem Stenokurs, nicht der Deutschen Einheitskurzschrift und nicht weil der Lehrer mit ihr heute geschimpft hatte, nicht weil der Schnee draußen nicht aufhörte und vielleicht die ganze Stadt unter sich begraben würde.

Sondern wegen der Worte von ihm, dem Jungen, der ihrer war, die Worte warenʼs, die sich überall breit machten, wegen der Gabriele schrie. Und also schrie Gabriele.

Über die Autorin:

Maria Babusch studierte Literatur- und Kulturwissenschaft sowie Französisch in Dortmund, Bochum und Leeds. Sie wurde 2021 zum auftakt festival für szenische texte eingeladen und entwickelte als Teil des Kollektivs Operation Memory eine Produktion für das Schauspiel Dortmund. Ihre Lecture Performance Hacker auf Estradiol wurde u.a. zum FAVORITEN Festival und zu Unruly Readings – Reihe für Literatur und Performance am Orangerie Theater Köln eingeladen. Seit 2023 studiert sie Literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien Köln.