Josef Redings Friedlandbuch und die „Heimkehr der Zehntausend“

von Sascha Schießl

Im Jahr 1956 erschien im Paulus Verlag Josef Redings Buch Friedland. Chronik der großen Heimkehr. Im Alter von 27 Jahren hatte Reding zu jenem Zeitpunkt schon mehrere Bücher veröffentlicht. Mit dem Friedland-Buch wandte sich der Schriftsteller nun erstmals einem hochaktuellen, sehr politischen Stoff zu: der Entlassung der letzten „Kriegsheimkehrer“ aus sowjetischer Gefangenschaft und ihre Aufnahme im Grenzdurchgangslager Friedland. Das Lager Friedland als Aufnahmeort war schon seit einigen Jahren als selbsternanntes „Tor zur Freiheit“ allgemein bekannt und eng mit öffentlichen Debatten über die Kriegsgefangenen und Vermissten verknüpft. Die Bilder von der sogenannten „Heimkehr der Zehntausend“ zwischen Oktober 1955 und Januar 1956 gingen dann in das kulturelle Gedächtnis der frühen Bundesrepublik ein. Das Lager war in jenen Jahren so geläufig, dass „Friedland“ als alleiniger Titel auf dem Cover von Redings Buch ohne erklärenden Zusatz völlig genügte.

Das Lager Friedland in der frühen Nachkriegszeit

Eingerichtet hatte das Lager die britische Militärverwaltung im Herbst 1945 in Friedland, einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Göttingen. Hier im äußersten Süden der damaligen Provinz Hannover trafen die britische, die amerikanische und die sowjetische Besatzungszone aufeinander. Um die Menschen, die zwischen den Zonen unterwegs waren, zu registrieren, zu versorgen und weiterzuleiten, entstanden überall entlang der Zonengrenzen Auffang- und Durchgangsstationen, von denen nur wenige länger bestanden.

Aufgenommen wurden in den ersten Jahren vor allem Flüchtlinge, Vertriebene, Menschen, die während des Zweiten Weltkrieges aus den Großstädten evakuiert worden waren, sowie entlassene Kriegsgefangene. Allein innerhalb des ersten Jahres wurden in Friedland mehr als eine Million Menschen registriert. Anfangs war das Lager eine Durchgangsstation in beide Richtungen, im Laufe der Zeit nahm die Zahl jener, die von der britischen in die sowjetische Besatzungszone gingen, dann aber stark ab. 1950 begann die Aufnahme und Registrierung von Aussiedler*innen in der Bundesrepublik, eine Aufgabe, für die das weiterhin betriebene Lager auch heute (2023) noch zuständig ist (zur Geschichte des Lagers siehe Sascha Schießl: »Das Tor zur Freiheit«).

Die wachsende Bekanntheit des Lagers Friedland seit Ende der 1940er Jahre war eng mit der Aufnahme von entlassenen Kriegsgefangenen verbunden. Denn das Schicksal vermisster deutscher Soldaten und die Frage der Entlassung der letzten Kriegsgefangenen gehörten zu den zentralen gesellschaftlichen Themen der Nachkriegszeit, die in vielfältiger Weise politisch instrumentalisiert wurden. (Siehe Frank Biess: Homecomings. Returning POWs and the Legacy of Defeat in Postwar Germany und Robert G. Moeller: War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany.)

Das Lager Friedland, in dem im August 1946 die ersten geschlossenen Transporte registriert worden waren, wurde schließlich der zentrale Aufnahmeort der Bundesrepublik für diese zeitgenössisch sogenannten „Heimkehrer“ aus sowjetischer Gefangenschaft.

Bei einer Entlassungswelle zwischen September 1953 und Februar 1954 kamen zahlreiche Züge mit Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion in die Bundesrepublik. Die Ankunft dieser Transporte im Lager Friedland waren mediale und politische Großereignisse, die den Bekanntheitsgrad des Lagers noch einmal erhöhten. Spätestens jetzt war Friedland zu einem vielfältig aufgeladenen Symbol der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft geworden, an dem Fragen von Erinnerungspolitik, Vergangenheitsbewältigung und Opferdiskurs in der frühen Bundesrepublik verhandelt wurden (Schießl: »Das Tor zur Freiheit«, S. 184-191).

Nach dem Besuch von Bundeskanzler Konrad Adenauer in Moskau im September 1955 wurden weitere Transporte mit entlassenen Kriegsheimkehrer*innen angekündigt. Es war daher vorauszusehen, dass die sich abzeichnende Aufnahme der, so die öffentliche Wahrnehmung, nunmehr letzten Kriegsgefangenen in Friedland wiederum für ein ausgesprochen hohes gesellschaftliches wie mediales Interesse in der jungen Bundesrepublik sorgen würde. Dass etwa ein Drittel dieser „Heimkehrer“ keine kriegsgefangenen Soldaten, sondern Zivilinternierte und politische Nachkriegshäftlinge waren, spielte in den Debatten jener Zeit dagegen eine nur sehr untergeordnete Rolle.

Das Buch

Ein Buch über Friedland, einem Ort, an dem Medienvertreter*innen, Politiker*innen, Wohlfahrtsverbände und Privatpersonen grundsätzliche politische Fragen der frühen Bundesrepublik erörterten, versprach einerseits Aufmerksamkeit und andererseits eine mindestens passable Auflage, war also nicht zuletzt eine gute Möglichkeit, um Geld zu verdienen. So verwundert es nicht, dass neben den unzähligen Medienberichten während der Transporte 1956 gleich zwei Bücher über das Lager erschienen, zum einen Redings Chronik, zum anderen „Das Buch von Friedland“ des Göttinger Journalisten Walter Müller-Bringmann.

Reding war vom Verlagsleiter des Paulus Verlages, Georg Bittner, beauftragt worden, über die Entlassung und Aufnahme der letzten Kriegsgefangenen in Friedland zu berichten und eine „Chronik der großen Heimkehr zu erarbeiten.“ (Reding: Friedland, Nachwort, S. 267.) Reding erzählte knapp 60 Jahre später in einem Zeitzeugeninterview, er habe gemerkt, „mit diesen kleinen Zeitungsartikeln war es nicht getan, ich spürte, man musste sich dort stärker engagieren.“ (Gedächtnis der Nation, Interview mit Josef Reding). Reding wollte also nicht nur punktuell aus Friedland berichteten, wie es die Zeitungen und Magazine jener Jahre taten, sondern einen umfassenden Bericht liefern.

Für ein halbes Jahr – von Oktober 1955 bis April 1956 – quartierte sich der junge Schriftsteller selbst im Lager Friedland ein und engagierte sich dabei in verschiedenen Bereichen der Einrichtung als Helfer. Das war keineswegs ungewöhnlich. Über die Wohlfahrtsverbände kamen in jenen Jahren immer wieder viele ehrenamtliche Helfer*innen nach Friedland und lebten dann oft direkt im Lager. Während seines Aufenthalts führte Reding nach eigenem Bekunden über 200 Gespräche mit ankommenden „Heimkehrern“. (Reding: Friedland, Nachwort, S. 268.) Er war dabei insbesondere im Umfeld der Caritasstelle im Lager und des katholischen Lagerpfarrers Josef Krahe aktiv. Reding schrieb, wie das Titelblatt als Authentizitätsnachweis vermerkte, sein gut 250 Seiten umfassendes Werk noch vor Ort „im Winter 1955/56 in der Baracke C3 des Lagers Friedland“.

Thematisch behandelt Reding in seinem Werk Kriegsgefangenschaft, so wahrgenommenes deutsches Leid sowie christliche Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft im Lager Friedland. Obwohl als solche betitelt, ist Redings Buch allerdings keine Chronik des Lagers oder der Aufnahme der letzten Kriegsgefangenen.

Das Buch ist vielmehr eine Mischung aus Roman und Erlebnisbericht. In fiktionalen und fiktionalisierten Szenen spannt Reding einen Bogen vom Kriegsende 1945 über die Ankunft in Friedland 1955/56 bis hin zum Ankommen der Entlassenen in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Die Form und die Erzählperspektive wechseln dabei immer wieder.

Gewissermaßen als erzählerischer Rahmen dienen dem Autor Elisabeth und Sebastian Borin. Beide haben während des Krieges geheiratet. Elisabeth erlebt das Kriegsende in Berlin, wo sie, noch im Wochenbett, der Vergewaltigung durch sowjetische Soldaten entgeht. Kurze Zeit später flieht sie aus der sowjetischen in die britische Besatzungszone und wird dann – ein erzählerischer Kniff Redings – im gerade gegründeten Lager Friedland aufgenommen. Sebastian gerät als Wehrmachtssoldat in sowjetische Gefangenschaft. An seinem Beispiel beleuchtet Reding das Schicksal der Kriegsgefangenen. Sebastian erreicht schließlich Anfang 1956 in einem Transport von Nichtamnestierten das Bundesgebiet, wo Elisabeth bereits auf ihn wartet. Ein anderer Teil der Handlung spielt im Lager Friedland selbst und beleuchtet vor allem das dortige Wirken der Caritas und der katholischen Kirche, vertreten durch die Caritasschwester Hedwig und insbesondere den katholischen Lagerpfarrer Krahe.

Zwischen die erzählerischen Passagen streut Reding Abdrucke von Laufzetteln oder Listen und Auszüge aus Briefen und Reden ein, die dem Buch einen Berichtscharakter verleihen und Authentizität vermitteln sollen. Hinzu kommen zwölf Doppelseiten mit Fotos, die Schlaglichter auf die Geschichte des Lagers werfen. Als eine authentische Schilderung der Ereignisse im Lager Friedland kann Redings Chronik gleichwohl nicht gelesen werden. So verzichtet Reding völlig auf eine einordnende Analyse der Geschehnisse und bleibt auch hinsichtlich der Entwicklungen und Abläufe in Friedland unpräzise, unklar und einseitig. Vielmehr sollen die dramatisch verdichteten, in der Perspektive nah an den Charakteren bleibenden Szenen für sich wirken und emotionalisieren. Während Adenauers Verhandlungen in Moskau liegen bei den Kriegsgefangenen in sowjetischen Lagern die Nerven blank; ein Mann versucht sich das Leben zu nehmen (Reding: Friedland, S. 184-186.). Beim zeitweiligen Stocken der Transporte im Spätherbst 1955 springt einer der Kriegsgefangenen aus dem auf offener Strecke stehenden Zug und wird beim Fluchtversuch von seinen Bewachern erschossen (Reding: Friedland, S. 218-224).

Redings Blick auf Friedland und die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft

Redings Chronik ist keine Geschichte des Lagers Friedland oder der Kriegsgefangenschaft. Es ist indes ein sehr politisches Buch, das die zeitgenössische Wahrnehmung Friedlands und die mit dem Lager verbundenen gesellschaftlichen Debatten spiegelt und den Leser*innen klare Botschaften bietet.

Josef Reding als Fotograf im Hintergrund, auf der Rückseite des Fotos vermerkte Reding die Namen des US-amerikanischen Bischofs Fulton J. Sheen und des Lagerpfarrers Josef Krahe. Es erscheint aber wahrscheinlicher, dass das Foto bei einem Besuch des apostolischen Nuntius Aloysius Münch in Friedland entstanden ist, Foto aus dem Nachlass.

a) Friedland als katholischer Ort der Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft

Spätestens seit Ende der 1940er Jahre hatten die Wohlfahrtsverbände und die Lagerleitung selbst intensiv am Mythos Friedland gearbeitet, das Lager als „Tor zur Freiheit“ markiert und kaum eine Gelegenheit ausgelassen, Friedland und die dort geleistete Arbeit hervorzuheben und politisch zu deuten (Schießl: »Ein Versprechen der Liebe, das draußen nicht erfüllt wird«, S. 210-232). Diese Perspektive findet sich auch in Redings Buch wieder, das ganz offenkundig vom katholischen Lagerpfarrer Krahe beeinflusst war. Krahe hatte mit der Caritas innerhalb weniger Jahre einen festen Unterstützer*innenkreis aufgebaut, der regelmäßig Geld, Kleidung und Gebrauchsgüter spendete. Aus diesem Umfeld rekrutierten die Wohlfahrtsverbände im Lager zudem immer wieder auch freiwillige Helfer*innen, die kürzere oder längere Zeit im Lager tätig waren und dort auch übernachteten (Schießl: »Das Tor zur Freiheit«, S. 138-147).

Es ist kaum vorstellbar, dass der sehr sendungsbewusste Krahe, der das Bild des Lagers in vielfältiger Weise mitprägte und der gemeinsam mit anderen Friedländer Akteur*innen jedwede Kritik stets scharf zurückwies, Redings Chronik nicht vor der Veröffentlichung gelesen und abgesegnet hatte. Krahe verfasste auch das Vorwort zur Chronik und gab dort den Ton vor: „Friedland ist deshalb zum leuchtenden, ragenden Zeichen unserer Zeit und vieler Völker von heute geworden, weil hier die Welt Satans durch die Welt Gottes überwunden wurde. […] Und dann gab ein ganzes Volk die Antwort auf die immer neue Not, als Transport auf Transport in Friedland eintraf. Die Liebe der Heimat füllt hier die Hände derer, die im Lager als Boten der Liebe standen.“ (Josef Krahe, Vorwort, in: Reding: Friedland, S. 8f.) In Redings Buch finden sich dann auch immer wieder Szenen, die die „Nächstenliebe“ und die uneigennützige Hilfsbereitschaft (insbesondere von Caritas und katholischer Kirche) im Lager Friedland verdeutlichen sollten.

Reding porträtierte Lagerpfarrer Krahe im März 1956 auch im Expulsus. Katholischer Informationsdienst für Vertriebenen- und Ostfragen und würdigte diesen als einen Mann, den „das Personal des Lagers Friedland vom Lagerleiter bis zum letzten Fahrer“ konsultiere. (Reding: Der Lagerpfarrer, S. 15).Wenig überraschend stellte Reding in seiner Chronik Krahe als einen zentralen Akteur im Lager dar: „‚Wo ist der Lagerpfarrer?‘ Diese Frage liegt oft über Friedland in den Tagen der großen Heimkehr.“ Der evangelische Lagerpfarrer jener Jahre, Johannes Lippert, der Krahe in Sachen Öffentlichkeitsarbeit und lagerinternem Wirken kaum nachstand, tauchte in Redings Chronik dagegen überhaupt nicht auf. Vielmehr ist bei Reding nur Krahe der Lagerpfarrer.

Zugleich ist Krahe eine Figur des Buches, dessen Gedankenwelt der Erzähler wiederholt beleuchtet: „Es ist eigentlich das erstemal, daß wir unsere befreiten Brüder nicht in Friedland begrüßen. Aber auch diese von den Sowjets Verfemten sollen wissen, daß wir den Geist von Friedland überall dort ausstrahlen können, wo er notwendig wird. Das denkt der Lagerpfarrer von Friedland. Seine Scheinwerfer grellen ein Stück aus der Nacht, die über der Zonengrenze liegt, streifen hin über den Eisernen Vorhang.“ (Reding: Friedland, S. 211 und S. 242)

Diese Überhöhung von Krahes Rolle bei gleichzeitiger Aussparung der Arbeit der übrigen Wohlfahrtsverbände kritisierte der Rezensent der ZEIT, der schrieb, Reding hätte „sich um eine allen Beteiligten gerecht werdende Darstellung bemühen“ müssen ( Friedland – zu einseitig gesehen, 2. August 1956). Für Krahe wiederum, der ohnehin sehr öffentlichkeitswirksam agierte, war Redings Buch eine weitere Gelegenheit, für die geleistete Arbeit im Lager Friedland zu werben und indirekt um Spenden für die Caritassstelle im Lager zu bitten. So schrieb er im Vorwort: „Ihr, unsere Freunde drinnen und draußen! Lest es alle, die ihr uns geholfen habt und weiterhin helft. Ihr, in deren Namen wir hier stehen.“

b) Deutsche Viktimisierungsdiskurse

Zeittypisch beginnt Redings Buch unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Jahre zwischen 1933 und 1945 und die nationalsozialistische Gewaltherrschaft in weiten Teilen Europas bleiben dagegen weitestgehend ausgeblendet. Dies entsprach der Stimmung in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Nicht Konzentrationslager, Angriffskrieg, Holocaust, Besatzungs- und Rassenpolitik, sondern das eigene oder sich selbst zugeschriebene Leid während der Kriegs- und vor allem der Nachkriegsjahre bestimmte die Perspektive der Zeitgenoss*innen. Die Opfer deutscher Gewaltherrschaft fanden kaum Beachtung und standen deutlich hinter den so verstandenen deutschen Opfern des Krieges und seiner Folgen zurück. Diese Perspektive greift auch Reding in seiner Chronik auf: „Heute sieht Krahe, daß das Elend der Fremdarbeiter [gemeint sind die während des Zweiten Weltkrieges ins Deutsche Reich verschleppten Zwangsarbeiter*innen, der Verf.] noch durch das der Deutschen im eigenen Land übertroffen wird, von dem der Vertriebenen, Ausgebombten.“ (Reding: Friedland, S. 143f.)

In der Öffentlichkeit wurden die Entlassenen weitgehend als Opfer verklärt, die sowjetisches Unrecht heldenhaft überstanden hätten. Die Ansprachen von Politiker*innen sowie kirchlichen und gesellschaftlichen Würdenträger*innen in Friedland und die Berichterstattung der Medien nahmen die Entlassenen in die, so die bundesdeutsche Selbstwahrnehmung, Opfergemeinschaft auf. Nach den Hintergründen einzelner Entlassener wurde zunächst kaum gefragt. Dies war auch in Redings Chronik nicht anders. Über den Transport der Nichtamnestierten, zu denen auch die Figur Sebastian Borin gehört, heißt es in Redings Chronik: „Die Welt weiß noch nicht, daß mit Ausnahme von zwei, drei Fällen die Anklagen, nach denen die deutschen Gefangenen zu Zwangsarbeit in Rußland verurteilt wurden, bis zur Komik übersteigert sind.“ (Reding: Friedland, S. 236.) Reding genügte hier ein Verweis auf die sowjetischen Verurteilungen in Schauprozessen, um im Umkehrschluss die Unschuld der Kriegsheimkehrer*innen – von ganz wenigen Einzelfällen abgesehen – zu behaupten. Eine solche, nicht zuletzt auch mit dem virulenten Antikommunismus der Nachkriegsgesellschaft verwobene Perspektive fand sich wieder und wieder in den Wortmeldungen jener Jahre. Ein Ort, um Schuld und Verantwortung zu thematisieren, war Friedland damit ausdrücklich nicht.

Sebastian Borin sinniert im Lager Workuta über einen mitgefangenen Kriegsverbrecher, der zudem als geisteskrank geschildert wird: „Wegen Lewerenz und der wenigen, die gleich ihm waren, gingen die Überlebenden der Einheit ins Straflager. Deswegen muß ich hier Kohle aus der Erde kratzen, denkt Borin.“(Reding: Friedland, S. 30.) Borin verwirft letztlich diesen Gedanken, weil er eigene Taten während des Krieges abwägt, findet dann aber Kraft in seinem Glauben.

Nur an wenigen Stellen schimmert in Redings Chronik deutsche Verantwortung durch, etwa wenn die Rede ist von „einer Zeit, als der Größenwahn die deutschen Grenzen bis zum Zerspringen immer weiter ausdehnen wollte.“ (Reding: Friedland, S. 257) Von Gewicht ist eine solche beiläufige Bemerkung indes nicht, ist doch schon eine Seite später, wieder im Bewusstseinsstrom Krahes, davon die Rede, dass „die deutsche Landschaft im Osten verkommt“. Und weiter: „Soll etwa aus dem asiatischen Menschenreservoir der deutsche Osten besiedelt werden?“ (Reding: Friedland, S. 258) Krahe fungiert hier nicht als Figur des Erzählers. Autor, Erzähler und Figur sowie der tatsächliche Lagerpfarrer Krahe sind in solchen Passagen nicht zu unterscheiden, sondern vermitteln die zentralen Botschaften der Chronik.

Redings Chronik spiegelte die Viktimisierungsdiskurse in der jungen Bundesrepublik wieder und war damit ein Produkt ihrer Zeit. Ein Gespür für das, was diese dominierenden Debatten nur notdürftig verdeckten, fehlt bei Reding indes. Denn gerade die Ankunft der entlassenen Kriegsgefangenen in Friedland zeigte eindrücklich, dass für die Verbrechen der NS-Zeit mitnichten nur einige wenige verantwortlich waren, auf die die Nachkriegsgesellschaft hätte verweisen können, um gleichsam kollektiv die eigene Unschuld zu betonen. So war zwar die Gruppe der mit den Transporten eintreffenden Kriegsheimkehrer*innen aufgrund der sowjetischen Entlassungspolitik sehr heterogen. Unter den letzten Kriegsheimkehrer*innen waren aber zahlreiche NS-Parteigrößen, Wehrmachtsgeneräle, KZ-Ärzte und -Wachmannschaften sowie Einsatzgruppenleiter, die für die Ermordung der jüdischen Bevölkerung im östlichen Europa unmittelbar verantwortlich waren. Einige dieser Fälle erregten denn auch früh öffentliche Aufmerksamkeit. So wurde etwa die Ankunft von Carl Clauberg, der während des Krieges in den Konzentrationslagern Auschwitz und Ravensbrück Sterilisationsexperimente an jüdischen Frauen durchgeführt hatte, schon im Herbst 1955 medial diskutiert. Nur wenige Wochen nach seiner Ankunft in Friedland wurde Clauberg schließlich verhaftet. Auch Gustav Sorge und Wilhelm Schubert, die als SS-Angehörige im KZ Sachsenhausen tätig gewesen waren und als Nichtamnestierte Anfang 1956 mit einem Transport eintrafen, wurden noch im Februar 1956 verhaftet. (Vgl. Schießl: „Das Tor zur Freiheit“) Reding erwähnte keinen dieser öffentlich bekannt gewordenen Fälle in seiner Chronik. Die ZEIT bemängelte diese Einseitigkeit und beklagte, gewiss auch vor dem Hintergrund von Entlassenen wie Clauberg, Sorge oder Schubert, Redings „Inkonsequenz und Verbrämung“ (Friedland – zu einseitig gesehen, 2. August 1956)

c) Friedland als christlicher Erlösungsort

Während für Reding die entlassenen Kriegsheimkehrer*innen (mit Ausnahme weniger Einzelfälle) Opfer sowjetischen Unrechts waren, sollte das Lager Friedland für sie wiederum – symbolisiert insbesondere durch das aufopferungsvolle Wirken der katholischen Kirche und der Caritas – ein christlicher Erlösungsort sein.
So müssten in Friedland die sensationslüsternen Pressevertreter*innen „vor einem Beichtstuhl haltmachen. Hier wird das ego te absolvo gesprochen über Verstrickungen, von denen die Männer und Frauen in den Wattejacken keinem lebenden Wesen auf dieser Welt mehr etwas berichten werden. Hier werden durch das Kreuzzeichen die Ketten gesprengt, mit denen der einzelne noch an den Abgrund geschmiedet ist. Hier ist nur Raum für den Menschen, der mit Gott sprechen will. Hier ist nur Gnade und Erlöstsein.“ (Reding: Friedland, S. 209.)

Ein solcher Ort der Gnade und Erlösung war Friedland in solch einer Perspektive dann auch für einen hohen NSDAP-Funktionär wie Rudolf Jordan. Jordan, 1902 geboren und seit 1925 in der NSDAP, wurde 1933 Mitglied des Reichstags und des Preußischen Staatsrates. Im Jahr 1937 wurde er zum Reichsstatthalter in Braunschweig und Anhalt und zum Gauleiter in Magdeburg-Anhalt sowie, zwei Jahre später, zum Reichsverteidigungskommissar ernannt.

1944 war er SA-Obergruppenführer und Oberpräsident der Provinz Magdeburg (Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich., S. 290). In Redings Chronik erschien Jordan, der im Herbst 1955 in Friedland eintraf, als „gebrochene[r] Mann“, der das Schott-Messbuch dankbar angenommen und erklärt habe: „Das wird jetzt das Buch sein, das mich mein Leben lang begleitet. Glauben Sie uns, Herr Pfarrer, wir alle haben umgelernt.“ (Reding: Friedland, S. 211 f.)

Auch für Sebastian Borin beginnt in Friedland, genauer in der Unterkunft des katholischen Lagerpfarrers, die Erlösung, nämlich die Überwindung seines Leides während der sowjetischen Gefangenschaft. Krahe nimmt ihn beiseite und erklärt ihm: „So lebt Gott doch in der Welt ohne Gott. Ihr Leid wird nicht vergebens sein für das Land, in dem Sie gelitten haben.“ Krahe schenkt den Borins ein Messbuch, in das er „Gott hat uns zur Freiheit berufen!“ schreibt (Reding: Friedland, S. 254). Und ganz am Ende der Chronik werden Kinder von Aussiedler*innen in der unlängst geweihten katholischen Kirche im Lager getauft: „Ihr Kleinen seid geboren mitten in jenem Land, das euch nicht einmal das Menschsein zugestehen will. Hier aber werdet ihr wiedergeboren aus dem Wasser des Heils, das euch gefeit machen wird gegen alle Fesseln und Kerker.“ (Reding: Friedland, S. 263)

Schluss

Redings Buch war nach dem Erscheinen ein Erfolg. In vielen Zeitungen erschienen Rezensionen, unter anderem in der ZEIT und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in der der Journalist Hermann Pörzgen, der selbst im Herbst 1955 aus sowjetischer Gefangenschaft entlassen und in Friedland aufgenommen worden war, die Besprechung schrieb (Chronik der großen Heimkehr, in: FAZ vom 10. Juli 1956). 1959 erschien die Chronik dann im Herder-Verlag als günstige Taschenbuchausgabe.

Reding selbst erklärte knapp 60 Jahre nach Erscheinen des Buches in einem Zeitzeugeninterview, er würde es „nicht viel anders schreiben“, es sei „ein ehrliches Buch“ (Gedächtnis der Nation, um 2014). Dass das Buch aber bald aus dem Blick geriet und im Gegensatz zu anderen von Redings Werken seit Jahrzehnten nicht mehr gedruckt wird – eine Wiederauflage hatte 1985 nur einen überschaubaren Absatz gefunden – war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Chronik unverkennbar ein Produkt ihrer Zeit war. Die Themen und die transportierten Botschaften hatten spätestens im Laufe der 1960er Jahre an Bedeutung eingebüßt. Denn mit dem allmählichen Wandel der Erinnerungskultur im Zuge der NS-Prozesse und der Verjährungsdebatte bahnte sich seit Ende der 1950er Jahre ein differenzierterer Umgang mit der jüngsten Vergangenheit an (Vgl. Detlev Siegfried: Zwischen Aufarbeitung und Schlußstrich). Diese Entwicklung ging einher mit einem grundlegenden kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Einstellungs- und Mentalitätswandel der Bundesrepublik. In der Folge verblasste so auch die Erinnerungsfunktion des Lagers Friedland in der bundesdeutschen Öffentlichkeit, während deutsche Opferdiskurse immer weniger mehrheitsfähig waren. Gleichsam verlor auch Redings katholische Erlösungschronik an Relevanz und wird, so ist zu vermuten, nur noch für dem Lager verbundene Interessengruppen und Akteur*innen bleibende Bedeutung gehabt haben.

Josef Reding in Friedland, Foto: Helmut Orwat.

Quellen und Literatur

Sammlung von Zeitungssausschnitten im Nachlass Josef Redings, Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt.

Chronik der großen Heimkehr, in: FAZ vom 10. Juli 1956, S. 6.

Friedland – zu einseitig gesehen, in: Die Zeit vom 2. August 1956, S. 6.

Brief des Georg Bittner Verlags an Josef Reding vom 20. Februar 1986 (Honorarabrechnung) im Nachlass Josef Redings, Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt.

Gedächtnis der Nation, Interview mit Josef Reding (Teil 1), um 2014 (abgerufen Oktober 2022).

Gedächtnis der Nation, Interview mit Josef Reding (Teil 4), um 2014 (abgerufen Oktober 2022).

Biess, Frank: Homecomings. Returning POWs and the Legacy of Defeat in Postwar Germany, Princeton 2006.

Fulbrook, Mary: German National Identity after the Holocaust, Cambridge 1999; Moeller: War Stories.

Hilger, Andreas: »Die Gerechtigkeit nehme ihren Lauf«? Die Bestrafung deutscher Kriegs- und Gewaltverbrecher in der Sowjetunion und der SBZ/DDR, in: Norbert Frei (Hg.): Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006, S. 180-246.

Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2005, S. 290.

Moeller, Robert G.: War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany, Berkeley/Los Angeles/London 2001.

Müller-Bringmann, Walter: Das Buch von Friedland, Göttingen 1956.

Reding, Josef: Der Lagerpfarrer, in: Expulsus 4 (1956), Nr. 3, S. 14-15.

Schießl, Sascha: »Das Tor zur Freiheit«. Kriegsfolgen, Erinnerungspolitik und humanitärer Anspruch im Lager Friedland (1945-1970), Göttingen 2016.

Schießl, Sascha: »Ein Versprechen der Liebe, das draußen nicht erfüllt wird«. Die Wohlfahrtsverbände, die Lagerleitung und die symbolische Aufladung des Lagers Friedland (1945-1970), in: Henrik Bispinck/Katharina Hochmuth (Hg.): Flüchtlingslager im Nachkriegsdeutschland. Migration, Politik, Erinnerung, Berlin 2014, S. 210-232.

Siegfried, Detlev: Zwischen Aufarbeitung und Schlußstrich. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten 1958 bis 1969, in: Axel Schildt/ders./Karl Christian Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 77-113.

Über den Autor:

Sascha Schießl studierte Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft in Göttingen. 2016 erschien seine Dissertation ‚Das Tor zur Freiheit‘. Kriegsfolgen, Erinnerungspolitik und humanitärer Anspruch im Lager Friedland (1945-1970). Zu seinen Forschungsinteressen gehören die Geschichte von Flucht, Migration und Asylpolitik, Lager und Verwahrungsorte sowie die Geschichte von Prostitution und gesellschaftlichen Randgruppen. In den vergangenen Jahren war er hauptberuflich im Kontext von Flucht und Asyl tätig.